Die Brücke über das Unbekannte

Die Brücke über das Unbekannte

Sophie spürte, wie der Wind über die Schlucht fegte, und starrte auf die Brücke. Die Seile schienen in der Dunkelheit zu verschwinden, die Planken knarrten selbst unter dem Druck des Windes. Dahinter lag nichts als Nebel.

Doch Sophie wusste, warum sie hier war. Auf der anderen Seite wartete etwas, das sie sich nicht erklären konnte, aber tief in sich fühlte: die Möglichkeit, sich selbst zu beweisen, dass sie über den Rand ihrer Zweifel hinauswachsen konnte.

Niemand hatte sie gezwungen, diese Brücke zu nehmen. Es gab andere Wege, sicherere Wege. Doch Sophie hatte sie alle verworfen, weil sie wusste, dass sie in ihrem Inneren immer wieder hierher zurückkehren würde – zu diesem einen Moment, in dem sie sich entscheiden musste: für Stillstand oder für Veränderung.

Die Brücke war mehr als nur ein Weg in eine andere Richtung. Sie war ein Symbol für alles, was Sophie bisher vermieden hatte. Sie hatte immer einen Grund gefunden, Dinge aufzuschieben. „Jetzt ist nicht der richtige Moment.“ „Ich bin noch nicht bereit.“ Doch die Wahrheit war, dass sie sich niemals bereit fühlen würde.

Die Brücke war alt, ja. Aber sie existierte noch. Sie war da, trotz der Jahre, trotz des Windes, trotz der Zweifel, die Sophie jeden Tag in sich trug.

„Warum nicht zurückgehen?“ fragte sie sich. Doch der Gedanke fühlte sich falsch an, wie eine Lüge. Die andere Seite bedeutete nicht nur einen neuen Ort, sondern auch ein neues Selbst.

Sophie hatte sich vorbereitet. Ihr Seil war sicher geknotet, sie hatte die Brücke studiert, und sie hatte die Risiken analysiert. Doch trotz all der Vorbereitung war da diese Stimme in ihrem Kopf: „Was, wenn du versagst? Was, wenn du hinunterfällst?“

Je mehr sie versuchte, diese Gedanken zu ignorieren, desto lauter wurden sie. Sie ballte die Hände zu Fäusten, fühlte den rauen Stoff ihres improvisierten Sicherheitsgurts und sagte leise: „Ich werde nicht perfekt sein, aber ich werde bereit sein.“

Die ersten Schritte waren schwer. Die Planken waren rutschig, und der Wind schien sich gegen sie zu wenden. Doch sie ging weiter, Schritt für Schritt, bis plötzlich eine Planke unter ihr zerbrach.

Ihr Fuß rutschte weg, und sie fiel, bis das Seil um ihre Taille sich spannte. Das Adrenalin jagte durch ihren Körper, und sie schrie auf. Für einen Moment hing sie über dem Abgrund, die Hände verkrampft um das Seil.

Die Stimme in ihrem Kopf meldete sich sofort: „Ich habe es dir gesagt. Du bist nicht bereit!“

Doch während sie da hing, keuchte und nach Halt suchte, kam ein anderer Gedanke auf: Ich habe mich vorbereitet. Nicht, um nicht zu fallen, sondern um wieder aufzustehen.

Mit zitternden Armen zog sie sich hoch. Ihre Muskeln brannten, und ihre Hände waren rau vom Seil. Doch sie schaffte es zurück auf die Planken. Der Sturz hatte sie nicht besiegt – er hatte ihr gezeigt, dass sie mehr aushalten konnte, als sie dachte.

Die Brücke war wie sie selbst: alt, voller Schwächen, aber immer noch da. Die morschen Planken repräsentierten all die Zweifel, die sie bisher zurückgehalten hatten. Aber die Seile, die sie selbst geknotet hatte, waren ein Symbol für die Kraft, die sie durch ihre eigene Vorbereitung gewonnen hatte.

Als sie weiterging, fühlte sie, wie etwas in ihr sich veränderte. Sie verstand, dass es nicht die Brücke war, die sie überwinden musste – es war ihr Glaube, dass sie immer „bereit“ sein müsste, um den nächsten Schritt zu wagen.

Als Sophie die andere Seite erreichte, war sie erschöpft, aber nicht gebrochen. Sie sah nicht nur den neuen Horizont, der sich vor ihr öffnete. Sie sah sich selbst: jemand, der gefallen, aber auch wieder aufgestanden war.

„Die Brücke hat mich nicht stärker gemacht,“ dachte sie, „ich habe mich selbst stärker gemacht.“

Sie drehte sich noch einmal zur Brücke um und lächelte. Nicht, weil sie die Gefahr überwunden hatte, sondern weil sie sich entschieden hatte, sie anzunehmen.

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